Grüß Gott!

Wunder am Weg

"Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe wird dieses schöne Zitat zugeschrieben. Wahrscheinlich hat er es so nie ausgesprochen. Doch wenn man den Lahn-Camino zwischen Wetzlar und Koblenz unter die Füße nimmt, meint man, die Aura des Dichterfürsten als ,Vor-Gängerʻ ganz unmittelbar zu spüren: Genau hier wanderte auch er – und mindestens ein großer Stein, auf dem er anno 1772 gerastet haben soll, gemahnt als stummer Zeuge seiner 'VorGängerschaft'...

Freilich war Goethe nicht als Pilger unterwegs. Vielmehr flüchtete er aus Wetzlar, in jenem tiefem Liebeskummer befangen, der ihn zu seinem Briefroman Werther inspirieren sollte, welcher seinen Weltruhm begründete. Goethes Beispiel zeigt: Wandern kann unser Leben grundlegend verändern ...

 

Auf den Spuren Goethes unterwegs

Gute 244 Jahre später war ich auf diesen Spuren Goethes unterwegs: im Sommer 2016, nachdem mich elf Jahre zuvor auf dem berühmten spanischen ,Camino Francésʻ erstmalig und unheilbar das Pilgervirus ereilt hatte – und, ja: etwas Liebeskummer war auch immer im Spiel. Nun endlich erfüllte ich mir einen Traum und lief einmal direkt an der heimischen hessischen Haustür los: vorbei an meinem damaligen Arbeitsplatz, dem kleinen Gießener Jugendstil-Stadttheater, latent benommen von der berüchtigten Saison-Abschlussfeier des Vorabends.

 

Ich lief hinaus, meinen täglichen öden Arbeitsweg entlang, doch diesmal über die Stadtgrenze hinweg in die aufregende Unsicherheit des Unbekannten. 2019 erreichte ich dann schließlich in mehreren Etappen Santiago de Compostela. Dort zog ich Bilanz: Auch mich hatte dieser Pilgerweg verändert. Der Matthias des Sommers 2016 war nicht mehr jener des Sommers 2019: Derweil ich diesen Weg als Theatermensch begonnen hatte, war ich an seinem Ende Student der Theologie und schreibe nun diese Zeilen als angehender Pfarrer.

 

Ein Entschluss – zwischen Gießen und Santiago

Irgendwo zwischen Gießen und Santiago festigte sich das zuvor vage Gefühl, meinem Leben eine ungeahnte, grundlegende Wendung geben zu müssen; den Entschluss selbst wiederum fällte ich, gut lutherisch, inmitten einer beängstigenden Gewitterwand direkt vor Le Puy, in die ich mit tollkühner Naivität pfeifend und singend hineingepilgert war... Der Weg wurde so nicht Symbol, sondern wegweisender Teil meines Lebensweges. Wer auf seinem Camino große, spektakuläre Wunder oder gar eine Gottesschau erwartet, wird womöglich enttäuscht sein. Doch wer seine Hand nach jenen vermeintlich kleinen alltäglichen Wundern ausstreckt, der erfährt sie auf seinem Wege in lebensverändernder Fülle...

 

Wunder des Alltags oder Fügung?

Religiöse Gemüter bezeichnen diese alles verändernden 'Wunder des Alltags' als Fügungen: von ungeahnten Begegnungen im geradezu unbegreiflich richtigen Moment bis hin zum perfekten Sonnenuntergang am Ende des Weges... Durch Entschleunigung und Reduktion die Fülle des Daseins zu erfahren und dabei vielleicht zum Sinn des eigenem Lebens vorzudringen – darin besteht die Spiritualität des Weges. Doch zeigt sich diese Spiritualität so unterschiedlich, bunt und facettenreich, wie eben all jene Menschen sind, die sich auf den Weg machen.

 

Eine pilgernde Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden

Im Bereich der christlichen Spiritualität ist Jesus selbst unser Vorbild: Ganz bewusst war er Wanderprediger, und sein Doppelgebot der Gottes- und Nächsten-Liebe (Mk 12,29-31) ging zu Fuß um die Welt. Auch heute wäre es mein Traum für Kirche und Christentum, sich wieder als pilgernde Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden zu betrachten: Leben im Geiste der heiteren Reduktion, der Zuwendung, der gegenseitigen Angewiesenheit und der Toleranz der Jakobswege. Denn schließlich vermag diese wunderbare Schlichtheit des Wanderns jede Glaubensrichtung und jede Spiritualität zu verbinden: Alle großen Religionen dieser Welt kennen die Pilgerschaft als Phänomen und Tradition. Sie ist ein großer verbindender Gedanke...

 

Jeder Mensch ist eine wandernde Existenz – denn wir sind pilgernde Gäste auf Erden. „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Dieser treffende Satz gilt dann eben gerade auch für den Weg zu mir selbst und darüber hinaus... Von Goethe zu Gott.

 


Ultreia!
Ihr Matthias Kauffmann

Wunder am Weg

"Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe wird dieses schöne Zitat zugeschrieben. Wahrscheinlich hat er es so nie ausgesprochen. Doch wenn man den Lahn-Camino zwischen Wetzlar und Koblenz unter die Füße nimmt, meint man, die Aura des Dichterfürsten als ,Vor-Gängerʻ ganz unmittelbar zu spüren: Genau hier wanderte auch er – und mindestens ein großer Stein, auf dem er anno 1772 gerastet haben soll, gemahnt als stummer Zeuge seiner 'VorGängerschaft'...

Freilich war Goethe nicht als Pilger unterwegs. Vielmehr flüchtete er aus Wetzlar, in jenem tiefem Liebeskummer befangen, der ihn zu seinem Briefroman Werther inspirieren sollte, welcher seinen Weltruhm begründete. Goethes Beispiel zeigt: Wandern kann unser Leben grundlegend verändern ...

 

Auf den Spuren Goethes unterwegs

Gute 244 Jahre später war ich auf diesen Spuren Goethes unterwegs: im Sommer 2016, nachdem mich elf Jahre zuvor auf dem berühmten spanischen ,Camino Francésʻ erstmalig und unheilbar das Pilgervirus ereilt hatte – und, ja: etwas Liebeskummer war auch immer im Spiel. Nun endlich erfüllte ich mir einen Traum und lief einmal direkt an der heimischen hessischen Haustür los: vorbei an meinem damaligen Arbeitsplatz, dem kleinen Gießener Jugendstil-Stadttheater, latent benommen von der berüchtigten Saison-Abschlussfeier des Vorabends.

 

Ich lief hinaus, meinen täglichen öden Arbeitsweg entlang, doch diesmal über die Stadtgrenze hinweg in die aufregende Unsicherheit des Unbekannten. 2019 erreichte ich dann schließlich in mehreren Etappen Santiago de Compostela. Dort zog ich Bilanz: Auch mich hatte dieser Pilgerweg verändert. Der Matthias des Sommers 2016 war nicht mehr jener des Sommers 2019: Derweil ich diesen Weg als Theatermensch begonnen hatte, war ich an seinem Ende Student der Theologie und schreibe nun diese Zeilen als angehender Pfarrer.

 

Ein Entschluss – zwischen Gießen und Santiago

Irgendwo zwischen Gießen und Santiago festigte sich das zuvor vage Gefühl, meinem Leben eine ungeahnte, grundlegende Wendung geben zu müssen; den Entschluss selbst wiederum fällte ich, gut lutherisch, inmitten einer beängstigenden Gewitterwand direkt vor Le Puy, in die ich mit tollkühner Naivität pfeifend und singend hineingepilgert war... Der Weg wurde so nicht Symbol, sondern wegweisender Teil meines Lebensweges. Wer auf seinem Camino große, spektakuläre Wunder oder gar eine Gottesschau erwartet, wird womöglich enttäuscht sein. Doch wer seine Hand nach jenen vermeintlich kleinen alltäglichen Wundern ausstreckt, der erfährt sie auf seinem Wege in lebensverändernder Fülle...

 

Wunder des Alltags oder Fügung?

Religiöse Gemüter bezeichnen diese alles verändernden 'Wunder des Alltags' als Fügungen: von ungeahnten Begegnungen im geradezu unbegreiflich richtigen Moment bis hin zum perfekten Sonnenuntergang am Ende des Weges... Durch Entschleunigung und Reduktion die Fülle des Daseins zu erfahren und dabei vielleicht zum Sinn des eigenem Lebens vorzudringen – darin besteht die Spiritualität des Weges. Doch zeigt sich diese Spiritualität so unterschiedlich, bunt und facettenreich, wie eben all jene Menschen sind, die sich auf den Weg machen.

 

Eine pilgernde Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden

Im Bereich der christlichen Spiritualität ist Jesus selbst unser Vorbild: Ganz bewusst war er Wanderprediger, und sein Doppelgebot der Gottes- und Nächsten-Liebe (Mk 12,29-31) ging zu Fuß um die Welt. Auch heute wäre es mein Traum für Kirche und Christentum, sich wieder als pilgernde Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden zu betrachten: Leben im Geiste der heiteren Reduktion, der Zuwendung, der gegenseitigen Angewiesenheit und der Toleranz der Jakobswege. Denn schließlich vermag diese wunderbare Schlichtheit des Wanderns jede Glaubensrichtung und jede Spiritualität zu verbinden: Alle großen Religionen dieser Welt kennen die Pilgerschaft als Phänomen und Tradition. Sie ist ein großer verbindender Gedanke...

 

Jeder Mensch ist eine wandernde Existenz – denn wir sind pilgernde Gäste auf Erden. „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Dieser treffende Satz gilt dann eben gerade auch für den Weg zu mir selbst und darüber hinaus... Von Goethe zu Gott.

 


Ultreia!
Ihr Matthias Kauffmann